Im vergangenen Monat verstarb ein berühmter römisch-katholischer Theologe und eine päpstliche Enzyklika wurde veröffentlicht. Zwischen den beiden bestehen wesentliche Zusammenhänge und es lassen sich wichtige Lektionen über die Beziehung zwischen Liebe und der Wahrheit des Gesetzes Gottes lernen. Christen sind der ständigen Versuchung ausgesetzt, Gesetz und Liebe zu trennen. Und wir finden diese Versuchung bei Progressiven am Werk, die die moralischen Lehren der Heiligen Schrift umgestalten möchten, um sie an die zeitgenössische Kultur anzupassen, sowie bei Legalisten, die wie die Pharisäer die äußerliche Einhaltung des Gesetzes als Ersatz für wahre Heiligkeit betonen.
Zwei Tage nach dem Tod des peruanischen Dominikanerpriesters und Theologen Gustavo Gutiérrez, der als Begründer der Befreiungstheologie gilt, verkündete Papst Franziskus seine neueste Enzyklika: Dilexit-Nr. Päpstliche Enzykliken werden normalerweise nach ihren einleitenden Worten benannt, die meist in lateinischer Sprache wiedergegeben werden, und diese hat ihren Namen von der einleitenden Erwähnung von Christus in Römer 8,37: „Er hat uns geliebt.“ Ein Blick auf die Enzyklika von Franziskus über die menschliche und göttliche Liebe Jesu Christi im Lichte der Befreiungstheologie von Gutiérrez kann uns helfen zu verstehen, dass wir nicht nur Liebe brauchen, sondern auch Liebe, die auf der Wahrheit beruht, um uns zu befreien.
Gutiérrez‘ bahnbrechendes Werk von 1971, Eine Theologie der Befreiunggilt als Gründungsdokument der Befreiungstheologie, insbesondere in ihrer lateinamerikanischen Ausprägung. Inspiriert von einer marxistischen Analyse der globalen Beziehung zwischen Arm und Reich argumentierte Gutiérrez, dass Gott in ihrem unvermeidlichen Konflikt mit den Reichen besonders auf der Seite der Armen steht. Die Aufnahme der Befreiungstheologie in den Mainstream der römisch-katholischen Theologie ist komplex – ganz zu schweigen von ihrem Einfluss auch auf andere christliche Traditionen, insbesondere auf die ökumenische Hauptbewegung. Eines der bleibenden Vermächtnisse von Gutiérrez ist jedoch die Übernahme der „bevorzugten Option für die Armen“ als Objektiv für christliches Sozialdenken.
Die Päpste Johannes Paul II. und Benedikt VI., beide Konservative, lehnten die Befreiungstheologie als eine kaum verhüllte Form des Marxismus ab. Auch das Verhältnis zwischen Papst Franziskus und der Befreiungstheologie ist kompliziert. Franziskus hat bekräftigt: „Die bevorzugte Option für die Armen steht im Mittelpunkt des Evangeliums.“ Aber auch wenn diese Lehre aus der Befreiungstheologie hervorgegangen ist, so ist sie doch in anderer Form weitgehend in die katholische Soziallehre übernommen worden. Wenn es als Ausdruck der besonderen Fürsorge Gottes für die Schwachen, seiner Fürsorge für die Armen und seiner Rücksichtnahme auf die Schwachen verstanden wird, dann ist es eine notwendige und würdige Dimension christlichen Sozialdenkens.
Das Problem besteht darin, dass diese bevorzugte „Option“ zu einem absoluten Gebot wird und die Armen als Klasse als gerecht und die Reichen als ungerecht angesehen werden. Gutiérrez kommt zu dem Schluss, dass die Kirche angesichts eines solchen Ungleichgewichts „klar und ohne Einschränkungen auf der Seite der unterdrückten Klassen und dominierten Völker stehen muss“.
Franziskus geht es nicht in erster Linie um wirtschaftliche Ungerechtigkeit, auch wenn von Konsumismus, Materialismus und Kommerzialisierung die Rede ist. Das Hauptanliegen des Papstes ist die Umstrukturierung und Neuausrichtung des christlichen Sozialdenkens in einer Sicht auf die menschliche Person, die das „Herz“ in den Vordergrund stellt. Wie Franziskus schreibt: „Nur das Herz ist in der Lage, unsere anderen Kräfte und Leidenschaften sowie unsere gesamte Person in eine Haltung der Ehrfurcht und des liebevollen Gehorsams vor dem Herrn zu versetzen.“
Unsere Liebe zu anderen muss in unserer Liebe zu Gott und noch wichtiger in Gottes transformierender Liebe zu uns verwurzelt sein. Aber diese Liebe kann nicht mit einer einfachen Sentimentalität oder kitschigen Süße verwechselt werden, die heute so oft als solche angesehen wird. Vielmehr muss unsere Liebe durch die Wahrheit über die menschliche Person und Gott, den Schöpfer, Erlöser und Erhalter, geformt und in ihr begründet sein. Der Ruf zur Liebe kann uns nicht blind machen für die Schwächen und das Versagen aller Menschen, ob reich oder arm. Und es kann uns auch nicht dazu verleiten, die Nächstenliebe zu verbilligen, indem wir die Sünde bejahen. Wahre Liebe führt uns, wie Thomas von Aquin lehrt, dazu, das Gute für unseren Nächsten zu wollen und zu tun, und die Wahrheit darüber, was für den Menschen gut ist, muss daher für unsere Liebe ebenso ausschlaggebend sein wie für Gottes Liebe zu uns.